Voll auf Erfolgskurs:
Und dann – der tiefe Fall.

Vor einem Jahr, am 22.10.2022: Auf unserem Hof in Aspertsham steht eine Eiche, einige Zeit zuvor hatte ein Sturm sie zerlegt. Eine schöne Eiche, von der Unteren Naturschutzbehörde als geschütztes Objekt ausgewiesen. Der Baum ist zu erhalten, haben sie gesagt. Eine Woche später hat ihn der Sturm zerlegt, einen Teil davon, ganz wollte er sich nicht ergeben. Einige Äste sind einfach abgebrochen, manche am Baum hängen geblieben. Die galt es abzuschneiden.

Für mich die eine einzige Lösung: aufsteigen und abschneiden. Was soll da schon dabei sein, das hab ich ja schön öfter gemacht. Mir wird Selbstüberschätzung nachgesagt, oder Grandiosität. Ich fühl mich so nicht, weder grandios, noch denke ich, dass ich mich selbst überschätze. Und so war es dann auch, beim Abschneiden der Äste.

Allerdings – so war das nicht geplant. Aber wer plant auch sowas schon. Wer stürzt sich schon mutwillig von einem Baum? Ich? Ja, vielleicht.
Ist es mutwillig, wenn man die eigenen Signale missachtet und nicht auf seine innere Stimme hört? Ja, vielleicht.

Aber was ist eigentlich wirklich passiert?

Nach einem wunderschönen Tag auf dem Hof wollte ich das schon so lange aufgeschobene Abschneiden erledigen, bevor der Winter kommt. Birgit war mit auf dem Hof und somit war die Voraussetzung gegeben, dass ich bei der Arbeit nicht alleine bin, sollte doch etwas schief gehen. Also bin ich auf den Baum gestiegen, langsam, vorsichtig, achtsam, jeder Tritt kontrolliert und völlig angstfrei. Ich wusste, was ich tat. Ich bin auf dem Baum hoch und runter, wie damals als Kind, ein wunderbarer Kletterbaum. Ich habe einen Ast nach dem anderen entfernt. Alles hat wunderbar geklappt. Voller Erfolg und genau so, wie ich es geplant hatte. Birgit hat zugesehen und Fotos von der Aktion gemacht. Dann war ich fertig, der letzte Ast war abgeschnitten, der schwierigste oder vermeintlich gefährlichste – problemlos.

Meine innere Stimme hat mir vor der Aktion immer wieder mal geflüstert: tu’s nicht – steig nicht auf den Baum. Da hab ich ihr wohl einen Schnippchen geschlagen meiner inneren Stimme, sie hat wohl doch nicht immer Recht. Ich hab mich ihr erfolgreich widersetzt. In voller Freude, dass alles perfekt geklappt hat, hab ich die Motorsäge abgeseilt, den Helm runtergeworfen und mich auf den Weg nach unten gemacht. Der gleiche Abstieg wie schon dreimal zuvor bei der Planung. Alles easy.

Und dann – der Griff ins Leere.

Schockstarre, keine Reaktionsmöglichkeit mehr. Ich hab mich umgesehen, ob es noch was zu greifen gibt, aber da war nichts. Freier Raum und mein Körper hat langsam Geschwindigkeit aufgenommen, nach unten. Komischerweise keine Spur von Angst, nur Klarheit. Fragen sind in meinem Kopf aufgetaucht: Wo ist die Motorsäge? Passt, auf der anderen Seite vom Baum. Ist es gut wenn ich mich im Fallen umdrehe? Nein, ist es nicht, bleib so. Was ist denn eigentlich unter mir? Fuck, dieser kleine Baum. Egal, wird schon passen. Wie lange dauert es eigentlich bis man da unten ankommt? Hm, anscheinend lange. Dreh ich mich eigentlich zu weit Richtung Kopf? Ja, das ist nicht gut. Jetzt sollte doch dann endlich mal der Aufprall kommen, oder? Und da war er dann – Blackout.

Eine Stimme: Thomas! Thomas! Thomas! Ich hab immer nur meinen Namen gehört, dazwischen Unverständliches. Ich habe gehört, wie ich einatme oder es zumindest versuche. Irgendwie aber aus dem Off, als wär ich gar nicht ich, sondern irgendwie ausserhalb. Dann hab ich wohl meine Augen geöffnet und Birgit hinter mir gespürt, mich selbst röcheln gehört, gespürt wie ich versuche einzuatmen. So richtig weiß ich es nicht, was dann passiert ist. Irgendwann fiel mir das Atmen leichter, Sanitäter waren da, der Mieter vom Hof und Birgit mit dieser unheimlichen Vertrauens-Energie. Eine Notärztin war auch da. Irgendwas hat mich dazu bewegt, wirklich zu mir zu kommen, oder zumindest mich um mich zu kümmern. Ich wusste, ich muss mich unbedingt umdrehen. Ich lag auf der Seite, hatte das Gefühl, dass meine Arme gebrochen sind und meine Beine nicht mehr funktionieren. Die Notärztin, gefühlt völlig inkompetent, ein Trampel sondersgleichen, meinte ich solle liegenbleiben wie ich bin. Ich erinnere mich, dass ich unglaublich wütend wurde, ich habe die Notärztin beschimpft und mitgeteilt, dass ich jetzt mache was ich weiß, was gut für mich ist und dass sie jetzt mitmachen können oder nicht, aber ich mach es jetzt einfach. Birgit hat gesagt: lasst ihn, er weiß was er tut. Dankbarkeit hat mich durchflutet und Liebe. Sie steht einfach hinter mir.

Umgedreht, auf den Rücken. Danke, atmen, endlich, ein wenig Freiheit. Die Feuerwehr war da um mich unterm Baum zu bergen und zum Krankenwagen zu bringen. Lauter bekannte Gesichter aus dem Dorf. Und ich stinksauer, fluchend und wütend. Schmerzen, neuronales Brennen, überall. So ein Scheißdreck. Voll behindert habe ich mich gefühlt.

Atmen, Thomas. Atmen.

Dann wurde ich im Krankenwagen festgebunden, jede kleine Kopfbewegung löste ein Feuer in meinen Armen aus. Ich ging im Kopf die Nervenstränge durch, wo läuft was, welcher Wirbel ist es, Halswirbel in jedem Fall, stillhalten. Entspannen, die Halskrause hilft. Ab ins Krankenhaus zum CT, schon irre unser Notfallsystem. Es ging wirklich alles rasend schnell und lief wohl wie am Schnürchen. Dann endlich Ruhe nach der Erstuntersuchung, reflektieren was eigentlich grad passiert ist und die ersten realistischen Gedanken und Fragen: Kann ich wieder laufen? Bin ich in Lebensgefahr? Innere Blutungen? Was ist wohl alles gebrochen? Scheiße, wenn man selber so viel weiß vom Körper. Nein, gut, ich muss nur hinspüren wo es fehlt. Dann kam der Befund, ein strahlender Arzt: Alles super Herr Lanzinger, sie haben Glück gehabt, keine gravierenden Schäden, nur zwei Fortsätze von zwei Halswirbeln abgebrochen, aber das ist kein Problem, sie können morgen wieder nach Hause.

Bitte? Hallo? Ich kann nicht mal meinen Kopf heben, meine Arme brennen wie Feuer, jede Bewegung vom Kopf ein Höllenritt. Sind Sie da wirklich sicher? Also, echt sicher, dass da sonst nichts ist? Er nimmt mir tatsächlich die Halskrause ab. Hallo? Also, ich will ja nicht schon wieder besserwisserisch sein – das wird mir ja auch immer nachgesagt – aber, ganz ehrlich, irgendwas stimmt da nicht, könnten sie nicht doch nochmal nachschauen? Also ich wüsste jetzt nicht wie ich in dem Zustand nach Hause gehen soll. Ich konnte ihn überzeugen, er schaut nochmal.
Nach einer Stunde kommt er wieder, die Halskrause wieder dabei, total aufgeregt: Nicht bewegen Herr Lanzinger, der Hubschrauber ist unterwegs, wir haben einen Splitter im Rückenmark gefunden, sie fliegen nach München, Rechts der Isar, Not-OP. Ah ja. Na dann…

Mein erster Flug mit dem Helikopter

Halskrause wieder um und fest angeschnürt geht’s ab nach München. Ganz schön eng so ein Helikopter. Kurze Platzangst oder Angst irgendwo anzustoßen, als ich verladen werde, durch diesen engen Slot. In 18 Minuten sind wir da, sagt der mitfliegende Arzt. Das ist schnell. Abgehoben, gelandet, ausgeladen und wieder ab zu Untersuchungen. Diesmal MRT. Das erste Mal, dass ich dankbar bin verstrahlt zu werden, falls man das überhaupt wird. Ich werde auf den Tisch umgelagert. Diesmal von fünf Personen, sehr vorsichtig, einer hält den Kopf, die anderen meinen Körper, aber jeder Millimeter Bewegung löst dieses höllische Brennen in den Armen aus. Ich bin echt nicht zimperlich, ausser ich hab Männerschnupfen, aber das hier wünsch ich keinem. Irre, was man aushalten kann. Nicht bewegen haben sie gesagt und ich musste lachen. Keine Sorge, hab ich gesagt. Rein in die Röhre, MRT-Lärm, wieder aus und wieder zurück durch die Hölle auf die Liege. Dann abgestellt auf dem Gang.

Eine junge Assistenzärztin kommt mit dem Befund: „Sie werden um 08:00 Uhr als Erster operiert, Herr Lanzinger. Die Bandscheibe zwischen den beiden Halswirbeln ist komplett zerfetzt, regelrecht nach vorne explodiert. Wir setzen eine neue ein, verschrauben die beiden Wirbel miteinander und dann haben wir da noch diesen Splitter im Rückenmark, da wissen wir noch nicht genau wie wir rankommen. Vielleicht müssen wir sie von beiden Seiten öffnen, das stellt sich während der OP heraus. Wenn wir von vorne nicht rankommen müssen wir eine zweite OP machen. Aber wir versuchen es, dass wir es in einer schaffen. Je länger der Splitter drinsteckt desto intensiver die neuronalen Auswirkungen. Von dem Splitter kommt das Brennen in den Armen, er hat genau zentral den Nerv erwischt, der über die Arme bis in die Finger läuft. Mit etwas Glück haben sie nach der OP wieder Gefühl in ihren Armen und Fingern. Haben Sie noch Fragen?“

Nur mal eben die geplatze Bandscheibe entfernen …

Äh ja, was heißt von vorne nicht rankommen? „Das wollen sie so genau nicht wissen, oder?“ Äh, doch, will ich schon. „Wir öffnen Sie neben dem Kehlkopf, schieben den Stimmapparat und den Kehlkopf zur Seite, damit wir freie Sicht auf Ihre Wirbelsäule haben. Könnte sein, dass sie etwas heiser sind nach der OP, oder mal einen Tag nicht sprechen können. Dann entfernen wir die geplatzte Bandscheibe und schieben die neue zwischen die Wirbel. Dabei versuchen wir vorher noch den Splitter zu erreichen ohne was kaputt zu machen.“ Eine Frage hätte ich noch, haben sie das schon mal gemacht? „Ja, natürlich, das ist eine Routine-OP. Wenn Sie jetzt noch Glück haben vergisst man Sie hier nicht auf dem Gang. Bis dann.“

Na gut, dann, bis dann. Gä läck. What the Fuck. Und was heißt jetzt eigentlich das mit dem Gang? Die Stunden vergehen, es ist ungefähr vier Uhr morgens, vier Stunden noch. Ich finde mit Mikrobewegungen eine Stellung, so dass meine Armen nicht brennen. Vielleicht geht ein bisschen schlafen. Telefonieren, ich sollte mal Birgit anrufen und Bescheid geben was los ist. Arme bewegen geht, gefühllos, aber geht. Mein Handy hat man mir neben die Hand gelegt. Ich erzähle was auf mich zukommt. Und das erste Mal kommt mir meine innere Stimme wieder in den Sinn. Tja – zumindest hab ich nach dem Sturz drauf gehört.

Dann kommt ein Pfleger und schiebt mein Bett einfach los. „Lanzinger, auf Station.“ Aha. Wir fahren gefühlt fünf Kilometer durch endlose Gänge, mit Aufzügen hoch und wieder runter. Der Typ ist jetzt nicht so der Einfühlsame hab ich das Gefühl. Dann, angekommen. „Umlagern, Herr Lanzinger“ Ich blicke mich mit den Augen um, wo sind hier fünf Mann zum umlagern? Eine Schwester kommt dazu und beide fangen an mich von der Liege zu ziehen. Brennen. Hölle, wie nie zu vor, ich schreie… laut. Extremes, ungehaltenes bayerisches Fluchen hallt durch die Gänge. Sie lassen los. Ich erkläre was mir fehlt und warum sie mich in keinem Fall zu zweit umlagern und dass ich hier den Vollaufstand mache wenn sie mich nochmal anfassen. Innere Stimme. Ich sehe verklärte Gesichter, sie sprechen miteinander in einer mir unverständlichen Sprache. Au man, das wird lustig, voll angekommen in den Abgründen des Gesundheitssystems. Die Schwester schafft es, mir zu erklären, dass sie mich auf Station bringen müssen und sie mich dazu jetzt umlagern, weil sie das Bett in dem ich liege in der Notaufnahme brauchen. Na servus. Aber gut, dann halt gemeinsam. Sie verstehen meine Situation. Wir verständigen uns darauf, dass ich meinen Kopf selbst mit den Händen hochhalte und meinen Körper so gut es geht anspanne, damit sie mich ins Bett ziehen können. Klappt. Hölle, aber klappt. Sie bedanken sich bei mir und ich mich bei ihnen. Wahnsinn. Schlafen. Irgendwie.

Dann geht’s wieder los. Abtransport, ab zur OP. Da waren es wieder fünf. „Wir müssen sie umlagern, Herr Lanzinger.“ Ich muss lachen. Also auf Station können die das zu zweit hör ich mich sagen. Betretene Gesichter. Aber zu fünft is mir schon lieber. Hölle ist’s aber so und so. Geschafft. „Sie bekommen jetzt die Narkose“. Endlich schlafen. Gefühlt ist mir alles egal, ich lasse los. Innere Stimme. Alles loslassen, selber Schuld, ich verabschiede mich vom bisher gelebten Leben, noch aktiv, bevor die Narkose einströmt.

Ich wache auf, das ging ja schnell. Meine Arme brennen nicht mehr, ich bewege vorsichtig den Kopf, nichts passiert, bewege Arme und Beine und weine. Alles gut. Es hat geklappt. Endlose Erleichterung strömt durch meinen Körper. Dankbarkeit. Endlose Dankbarkeit.

Die Macht Deiner inneren Stimme – unterschätze sie nicht

Ich glaube – ich hoffe, es wurde deutlich, was die innere Stimme kann. Ich habe sie im letzten Jahr so gut ich konnte beachtet. Immer ist es mir nicht gelungen. In entscheidenden Situationen jedoch war ich sehr achtsam mit mir selbst. Und ich weiss heute besser denn je zuvor: Deine innere Stimme hat immer Recht. Manchmal gibt sie Dir etwas Zeit und ist geduldig, wartet, ob Du selber drauf kommst, gibt Dir immer wieder Zeichen … aber irgendwann ist es aus mit der Geduld. Dann kommt sie – die Realitätsattacke – und holt Dich zurück auf Spur. Auf Deine Spur. Holt Dich zurück in Dein Leben. Und jeden Moment hast Du wieder die Wahl. Lebst Du Dein Leben? Oder das der anderen? Entscheide weise.